Vorplatzgeschichte
Es soll kalt in den Januartagen gewesen sein. Spontan sind noch führende Minister und Militärs angereist, um “Geschichte von oben” zu inszenieren. Das einfache Volk war nicht repräsentiert. Im berühmten Spiegelsaal von Versailles ruft die deutsche Reichselite um Wilhelm I. am 18. Januar 1871 das Deutsche Kaiserreich aus. Nach einem halben Jahrhundert eines lockeren Zusammenschlusses der deutschen Einzelstaaten im Deutschen Bund wurde der damals ersehnte deutsche Nationalstaat im Herzen Europas gegründet. Später wurden die Szenen im Spiegelsaal in Gemälden regelrecht zu einem Reichsgründungsmythos verklärt und vor allem Wilhelm II. in zahlreichen Denkmälern als deutscher Idealherrscher stilisiert.
Dieser Reichsgründung sind die sogenannten Einigungskriege vorausgegangen. 1864 im Dänischen Krieg und 1866 im Deutschen Krieg besiegten verschiedene deutsche Bündnisse unter preußischer Führung erst Dänemark und dann Österreich-Ungarn. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der umfassenden Niederlage Frankreichs war der Weg frei, das Kaiserreich auszurufen.
Musketier Heinrich Friedrich Drosden und Sergeant Engelbert Lütjen haben im Deutsch-Französischen Krieg mitgekämpft und ließen ihr Leben. Beide Soldaten kommen aus Bremervörde. Ihnen zur Ehre wurde ein Denkmal auf dem Vorplatz der St.-Liborius-Kirche in Bremervörde errichtet. Das Denkmal, bestehend aus einer Säule, auf der ein Adler thront, und einer Tafel, welche die Namen der beiden Soldaten trägt, nimmt nicht nur Bezug auf den entscheidenden Krieg gegen Frankreich.
Die typische wilhelminische Denkmalsstruktur, wie sie in den nächsten 40 Jahren bis zum Ersten Weltkrieg im Kaiserreich mehrfach an verschiedenen Orten wiederholt wird, zeigt in der Säule die Erhebung zur Großmacht. Der Adler symbolisiert den Reichsadler und damit das Vaterland, aber er steht auch für Sieg und damit für die Reichsgründung. In diesem Kontext ist das Denkmal in Bremervörde für die zwei gefallenen Soldaten einzuordnen. Die Inschrift der Tafel mit den Namen beginnt mit den Worten: “Dem Gedächtnis der im Kriege für Deutschlands Größe Gefallenen.” Über die Ehrung der beiden Soldaten stellte sich Bremervörde so in den Zusammenhang der historischen und ideologisierten Reichsgründung. Es geht in dieser Denkmalstruktur folglich weniger um eine Trauer um die beiden Soldaten oder um eine Mahnung gegen Krieg; die Kleinstadt Bremervörde sah sich über diesen Weg bewusst als einen mitwirkenden Teil in der glorreichen Geschichte des Kaiserreiches.
In den 1950er Jahren ist das Denkmal aus uns nicht bekannten Gründen abmontiert worden. In dieser Zeit verschwanden viele Denkmäler aus dem öffentlichen Raum. Beispielsweise wurden verschiedene Denkmäler in Bezug auf des Kriegsgefangenen- und KZ-Auffanglager in Sandbostel entfernt oder ersetzt. Die genauen Motive der Entfernung des Denkmals auf dem Vorplatz bleiben jedoch unbekannt. Die Tafel mit den Namen der beiden Soldaten wurde in den Kirchturm der St.-Liborius-Kirche umgesiedelt und hängt noch heute dort.
In den folgenden Jahrzehnten ist der Vorplatz der Kirche immer wieder erneuert und modernisiert worden. An der Stelle, wo das Denkmal für die Soldaten von 1870/71 gestanden hatte, ziert nach dessen Abriss ein einfacher Steinbrunnen den Ort. Zwei parallel angeordnete Baumreihen und Bänke geben dem Platz eine symmetrische Struktur. Nachts wird die Kirche angestrahlt und nimmt so einen zentralen Ort in Bremervörde ein. Diese Anordnung folgt ästhetischen Aspekten, den Vorplatz harmonisch in den öffentlichen Raum einzubetten.
Symbolische Strukturen sind durch eine Bronzestatue des Namenspatrons der Kirche gegeben, die zwischen den Baumreihen steht. Seit 1993 ziert dort “Der heilige Liborius *397 mit einem Kind” des Künstlers Carsten Eggers den Vorplatz. In einem Standbild sitzt Liborius auf einem Podest, legt seine rechte Hand auf ein nicht identifizierbares Buch und sieht in einer denkenden Haltung einen unschuldig wirkenden kleinen Jungen an, der sich an den alten Mann anlehnt und seinen Blick auf die Kugel in seiner Hand richtet, während sich seine Füße überkreuzen. Je nach Blickwinkel erhält die Statue ihre eigene Dynamik, setzt Liborius oder das Kind in den Mittelpunkt und eröffnet dem Betrachter verschiedene Deutungsansätze zwischen den beiden dargestellten Figuren.
An Stelle des Steinbrunnens tritt nun ein “Kunstwerk für den Frieden”, welches uns mahnt, sich für den Frieden einzusetzen. Anhand der Geschichte des Vorplatzes kann das Kunstwerk darüber hinaus die drei Geschichtsdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbinden. Wir erinnern uns der Kriege, wir setzten uns heute mit dem Kunstwerk auseinander, wir richten unsere Zukunft auf einen gerechten Frieden aus.